Im „Schachmagazin 64“, Dez. 07, wird Großmeister Dr. Robert Hübner mit folgenden Worten zitiert:
„Ich kann Schach niemandem empfehlen. Es bringt viel Verdruß und wenig Befriedigung. Das Ende meiner Schachkarriere ist nur eine Ansammlung fürchterlicher Fehler.“
Daß man im Schach zwangsläufig Fehler macht – der gute Spieler weniger, der schlechte mehr – ist bekannt. Entscheidend ist die Frage, wie man diesen Umstand bewertet. Menschen mit hohem Perfektionsideal ertragen es schwer, Fehler zu machen – vielleicht sollten sie besser die Finger vom Schach lassen. Den vollkommenen Schachspieler wird es nie geben – dafür ist das Schach einfach zu kompliziert, ein Matt in 19 wird normalerweise nur der Computer ankündigen (oder ein Spieler, der heimlich einen Computer benützt!). Am ehesten kam Capablanca (Weltmeister von 1921 bis 1927) dem Ideal der Vollkommenheit nahe – er soll zeitweise selbst das Gefühl gehabt haben, gar nicht mehr verlieren zu können. ("Es hat in meinem Leben Zeiten gegeben. da ich sehr nahe daran war zu glauben, daß ich auch nicht eine einzige Schachpartie verlieren könnte.") Aber das gab sich auch wieder.
Wer über seine eigenen Fehler lachen kann, ist gut dran – und wer nicht, sollte bedenken, daß Fehler zwar unangenehm sind, wenn sie einem selbst passieren, daß sie aber notwendig zum Schachspiel gehören – und daß der gewinnt, der den vorletzten Fehler macht. Man stelle sich vor, eine Gruppe von perfekt spielenden Schachkünstlern zelebriert ihr Können in makellosen Partien, die wohl ausnahmslos unentschieden enden. Attraktives Schach schaut anders aus.
Warum sind etwa die Partien von Michail Tal so faszinierend? Er bringt spektakuläre Opfer, die häufig nicht ganz korrekt sind – aber seine Gegner waren im Schock nicht fähig, die Widerlegung am Brett zu finden – und Tal hat gewonnen. Seine „Fehler“ bewirkten, daß die Partien zu Gratwanderungen wurden, und der Spieler mit den besseren Nerven überlebte.
Wichtigste Funktion der Fehler im Schach ist sicher die, daß sie wechselnd Asymmetrie herstellen im Spielverlauf, daß sich Chancen ergeben, Möglichkeiten für beide Seiten. Welcher Schachspieler kennt nicht die Situation, wo er in der Eröffnung eine Ungenauigkeit begangen hat, die sein Gegner ausnützt – ungewohnte Stellungsbilder entstehen, und wenn der Fehler nicht hundertprozentig-exakt widerlegt wird, ist noch einiges denkbar bis hin zum Kippen der Partie. Wer hätte nicht erlebt, daß er in einer Partie die Qualität (Turm gegen Springer oder Läufer)
v e r l i e r t – und etliche Züge später stellt sich heraus, daß das vielleicht ein gar nicht so schlechtes Qualitäts o p f e r war, das beachtliche Perspektiven eröffnet. Und wie viele, wenn nicht die meisten Glanzpartien verdanken sich dem Umstand, daß die eine Seite ungenau gespielt hat.
Wenn in Gambit-Eröffnungen ein Bauer bewußt geopfert wird, um Vorteil zu bekommen, ist das eigentlich auch ein „Fehler“, der gemacht wird, um ein Ungleichgewicht herzustellen. Materialgewinn (der gewonnene Bauer) bedeutet Zeitverlust, und das läßt sich ausnützen.
Wie armselig wäre das Schachspiel, wenn man es auf Gewinn und Verlust reduzieren würde. Gibt es nicht spannende, hochdramatische Partien, die dem Verlierer fast ebensoviel Spaß machen wie dem Gewinner? Den echten Schachfreunden ist die Originalität einer Partie wichtiger als der Sieg (der sicher nicht verachtet wird) - die Schachpartie als faszinierendes, ästhetisches Ereignis, als gemeinsames Kunstwerk der beiden Spieler.
Interessant ist auch die Frage, warum man einen Fehler macht – vor allem in den eigenen Partien kann man das schön studieren. War man sich zu sicher? Hatte man unnötig Angst und kam auf die Idee, ein paar Sicherungszüge einzuschalten, die die ganze schöne Angriffssituation verdarben? Hat man – etwa bei einer Kombination – ein Trugbild vor Augen? Sieht man eine Figur auf einem Platz, auf dem sie nicht steht – bloß weil sie in einer Variante dort stand, die man längst verworfen hat?
Wladimir Kramnik hatte keine Erklärung dafür, warum er im Match gegen Fritz ein einzügiges Matt übersehen hat. Vielleicht hängt es in diesem Fall mit einem ungewohnten Muster zusammen, das nicht gespeichert war.
Daß die Fehler so unvermeidlich sind im Schachspiel, hängt mit der vielleicht wichtigsten Qualität des Schachspiels zusammen – seiner für menschliche Spieler labyrinthischen Unendlichkeit, seiner absoluten Unerschöpflichkeit. Man kann Jahrzehnte lang Schach spielen – und immer wieder begegnen einem, je länger eine Partei dauert, neue Stellungen, die so vielleicht noch nie zu sehen waren. Natürlich gibt es die Perfektionisten, die Varianten und ganze Partieverläufe auswendig lernen – aber irgendwann ist jeder gezwungen, selbst zu denken – und Fehler zu machen.
Aus Fehlern kann man lernen – in der nächsten Partie wird man das beherzigen, was man zuletzt falsch gemacht hat – und man wird neue Fehler machen.
Mit dieser Thematik ist auch eine erkenntnistheoretische Problematik verbunden – die Frage nach der Tiefe unserer Reflexion. Beim Schach kann die sehr unterschiedlich ausfallen – je nach der Denk- und Rechen-Kapazität, die einem zur Verfügung steht, und auch je nachdem, für wie schwierig man das Problem ansieht – wie tief man in die Stellung hineinschaut bzw. wie tief Varianten zu berechnen man sich veranlaßt sieht. Wer weiter sieht, kommt weiter – aber man kann auch „zu weit“ sehen, endlos Varianten berechnen, an die der Gegner nicht im Traum gedacht hat. Das Schachspiel als Wettkampf mit begrenzter Zeit verlangt nicht nur logisches Denken, sondern auch psychologisches Abschätzen der Situation und des Mitspielers. Man darf mit Fehlern rechnen, wenn Menschen gegeneinander spielen, ständiger, stundenlanger Druck z.B. kann irgendwann den entscheidenden Fehlzug provozieren.
Fehler macht man im Schach wie im Leben (nur daß die Fehler im Schach viel schneller und präziser nachzuweisen sind) – und ihre Funktion ist häufig zweideutig – es ist längst nicht immer klar, wohin ein Fehler führt. Wer sich z.B. verirrt, hat einen Fehler gemacht – vielleicht hat er eine Auskunft falsch verstanden, vielleicht hat er die Landkarte falsch gelesen – aber wer weiß, wohin er nun kommt, und was er alles erlebt!
Wie sagte Großmeister Tartakower?
„Ich mache Fehler, also bin ich!“
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